Bertolt Brecht (1898-1956) war ein deutscher Lyriker, Dramatiker und Theaterpraktiker. Knopf (2001a:1ff.) unterteilt Brechts dramatisches Schaffen in drei Perioden, wobei er seine Schülerarbeiten ausklammert:
Exilzeit von 1933 bis 1947
Die Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Machtergreifung
Übergang zum sozialistischen Realismus (1933-1956)
In der ersten Phase seines Schaffens entstanden u.a. Baal, Trommeln in der Nacht, die sich noch hauptsächlich experimentell mit Entfremdung und Entindividualisierung beschäftigten. In der zweiten Phase, in der Brecht fast ausschließlich Stücke schrieb, ohne dass er viel Kontakt zu Theatern hatte, beginnt sich sein episches Theater voll zu entwickeln. Im frühen Nachkriegsdeutschland wurde Brecht unterschiedlich rezipiert. Während im Westen strikt zwischen dem Dramatiker und dem (angeblichen) Kommunisten unterschieden wurde, wurde er nach seinem Tod 1956 in der DDR zum Klassiker erhoben und kanonisiert.
Baal entstand als Gegenentwurf zum expressionistisch geprägten Stück Der Einsame. Ein Menschenuntergang von Hanns Johsts, ein späterer äußerst einflussreicher Schriftsteller im Dritten Reich. Inhalt von Johsts Werk ist das Leben des Dichters Christian Dietrich Grabbe (1801-1836), „der an seinem selbstzerstörerischen Egoismus, aber auch an der Mittelmäßigkeit der Gesellschaft, die seinem Genius nicht entsprechen und folgen kann, frühzeitig zugrunde geht“ (Hillesheim 2001:70). Grabbes extrentrisches Wesen und seine Außenseitertum ermöglichem ihm aber erst sein literarisches Schaffen. Brecht konzipiert Baal als Gegenentwurf zu Johsts empfindlichem Grabbe:
Während sich Letzterer als zerbrechlicher, schöner Jüngling in seinem idealistischen Pathos gefällt, propagiert der nicht nur hässliche, sondern geradezu unästhetische und dennoch magische Anziehungskraft besitzende Baal einen Materialismus des Genusses und der Ausschweifung, der für seine dichterische Kraft ebenso unerlässlich ist wie die Weltferne für die Grabbes. (Ebenda)
Inspirieren ließ sich Brecht bei seiner Hauptfigur von dem französischen Dichter des Spätmittelalters François Villon und dessen Vagantenleben. Urspünglich war Baal frißt! Baal tanzt! Baal verklärt sich!!! als Titel des Stücks vorgesehen. Das Stück bildet den Ausgangspunkt für Brechts Schaffen, in ihm finden sich bereits die grundlegensten theatertheoretischen Überlegungen widergespiegelt. Großes Thema des Baal ist, wie auch bei Trommeln in der Nacht, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Widerspiegelung im Jungel der Großstadt.
Namensgebend war sicherlich der semitische Fruchtbarkeitsgott Baal, dem „Sinnbild polytheistischer Lasterhaftigkeit und Zügellosigkeit“ (Hillesheim 2001:73), der dem bibelfesten Brecht sicherlich gut bekannt war. Die Baal-Figur Brechts ist allerdings nicht böse, sondern jenseits der Gut-Böse-Dualität, statt zum Jenseits wendet Baal sich dem Diesseits mit seinen Freuden zu. Mit Gott muss sich Baal nicht mehr auseinandersetzen: „Ob es Gott gibt oder keinen Gott / Kann solang es Baal gibt, Baal gleich sein“ (Brecht 1956:20). Er ist „in der Lage, mit totaler Gottesferne und der Absurdität der Welt zu Leben“ (Hillesheim 2001:77). Die Gesellschaft, in der Baal lebt, wird gleich zu Beginn des Stückes, auf einer Soirée, die oberflächlich betrachtet zu seinen Ehren veranstaltet wird, gezeichnet. Die Anwesenden Bildungsbürger schmücken sich mit ihrer scheinbaren Kunstkenntnis, zeigen damit aber, dass sie Kunst nur instrumentalisieren. Die Gesellschaft ist künstliche geworden, „und ihrer Gesetze der Unmittelbarkeit beraubt. Er [Baal] hat die Gesellschaft kompromisslos hinter sich gelassen und ist dennoch von ihr determiniert“ (Hillesheim 2001:79). Der als lebensfeindlich empfundene Normenzwang der Gesellschaft lässt Baal seinen Drang zum individuellen Ausleben seiner Triebe durchsetzen. Um dies zu illustrieren nutzt Brecht das Bild des Baumes, der ungehindert wachsen will. Baal fühlt sich letztlich wie ein solcher Baum, dessen Wachstum beschränkt ist, da er in einen Hof gepflanzt wurde und als er stirbt, sind die Holzfäller anwesend (vgl. Hillesheim 2001:80f.). Auch Baals Sprache zeigt, dass er gänzlich isoliert ist, während die anderen Figuren sich unterhalten, spricht Baal nur in sentenzenhafter Lyrik: „Sprache hat ihre Funktion als Mittel der Kommunikation beinahe vollständig verloren. Sie isoliert Baal, dient ihm in erster Linie, sich selbst [...] auszudrücken“ (Hillesheim 2001:83).
Hintergrund des Stücks sind die Novemberrevolution von 1918 bzw. der Spartakusaufstand von 1919. Brecht war zwar Zeuge dieser Ereignisse, das Stück spielt allerdings im Berliner Zeitungsviertel und Brecht hielt sich zu besagter Zeit in München auf. Geschildert wird die Kriegsgewinnler-Familie Balicke, die im Ersten Weltkrieg durch die Produktion von Geschosskörben reich wurden und die nun beschlossen haben, ihre Fabrikation auf Kinderwagen umzustellen, da die sie damit rechnen, dass nach den vielen Toten des Krieges die Geburtenraten wieder steigen werden. Die Tochter der Familie, Anna, verlobt sich mit Murk, der später bei den Geschäften des Vaters eine wichtige Rolle spielen soll. Allerdings ist Anna eigentlich mit Anreas Kragler liiert ist, der jedoch seit vier Jahren im Krieg vermisst wird. Als der Journalist Babusch Nachricht vom Spartakusaufstand bringt, wächst im Vater die Furcht vor einer Heimkehr von Kragler und der Zerstörung der familiären Ordnung. Mit dem Anbringen eines roten Monds kehrt dieser auch tatsächlich aus afrikanischer Kriegsgefangenschaft zurück. Allerdings will Balicke „seine durch die Verlobung zementierte Geschäftsverbindung mit Murk nicht gefährden und erschwert somit Kraglers Reintegration in die bürgerliche Gesellschaft“ (Mews 2001a:91), besonders deutlich wird dies bei den Verlobungsfeierlichkeiten in der Picadillybar, bei der Balicke Kragler beschimpft, ihm seine Existenzberechtigung abspricht und ihn verbal in den Bereich der Fiktion verschiebt. Anna will Kragler zunächst nicht zurück, da sie von Murk schwanger ist, beginnt sich jedoch langsam von letzterem zu distanzieren und unternimmt einen Abtreibungsversuch, der allerdings scheitert.
Kragler verlässt mit der Prostituierten Marie die Picadillybar und sie machen sich auf in Richtung Zeitungsviertel, allerdings ist Kragler nicht sonderlich begeistert dort an den Kämpfen teilzunehmen. Der darauf folgende, erst später von Brecht eingeschobene Akt mit dem Titel „Walkürenritt“ stellt den Wendepunkt des Dramas dar (konform mit Freytags Fünf-Akt-Struktur). Anna lässt Murk stehen und macht sich zusammen mit Babusch auf die Suche nach Kragler. Anna nimmt – folgt man der klassischen Walkürenüberlieferung und nicht Wagners Bearbeitung – die Rolle der Walküre ein, der die Aufgabe der Heldenwahl zufällt. Erst im fünften Akt allerdings (der vierte ist wohl als eine Art retardierendes Moment gedacht), findet eine Versöhnung zwischen Anna und Kragler statt. „Der allgemeingegenwärtige rote Mond entpuppt sich als billiges Theaterrequisit (ein Lampion), und die gewöhnlich mit dem Aufruf zum Kampf assoziierte Trommel ist ein der Unterhaltung dienendes Spielzeug aus dem Orchestrion von Glubbs Kneipe“ (Mews 2001:94), die beiden Requisiten fallen in den wasserlosen Fluss. Es handelt sich dabei um eine Verfremdung. Kragler fordert am Ende das Publikum auf nicht so romantisch zu glotzen, was wiederum die Aufhebung der Illusion zum Ziel hat. Das Stück, das seine Uraufführung 1922 an den Münchener Kammerspielen erfuhr wurde von der Kritik äußerst positiv aufgenommen. Mews (2001a:97) zitiert den Theaterkritiker Herbert Iherin: „Der vierundzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das Antlitz Deutschlands verändert.“
Brechts erstes großes episches Theater (epische Überschriften nehmen hier die Handlung der Szenen vorweg) behandelt eine Thematik der Ökonomie. Das Stück spielt um 1900 herum in den Chicagoer Schlachthöfen und handelt von der den ‚Schwarzen Strohhüten‘ – eine an die Heilsarmee angelehnte Einrichtung – angehörigen Johanna Dark (eine Anspielung an Jeanne d’Arc) und stellt eine Kritik an der kapitalistischen Ökonomie sowie an religiösen Institutionen dar. Obwohl nicht ganz zur Jahrhundertwende passend spielt das Drama auch an die Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre an.
Im Zuge einer wirtschaftlichen Krise beginnen in Chicago die Schlachthöfe zu schließen; die Arbeiter werden nicht mehr hineingelassen. Zentrale Figuren sind neben Johanna Dark die Fabrikanten Mauler, Cridle und Lennox und die im Hintergrund agierenden Banken in New York. Pierpont Mauler sieht seine Chance gekommen: Durch einen Tipp aus New York kann er seine Konkurrenten ausstechen und einen Teil der Arbeiter durch Rationalisierungen entlassen, indem er zunächst seine Anteile an seinen Kompagnon Cridle verkauft. Die Arbeiter organisieren daraufhin einen Streik, der gewaltsam beendet wird. Weil sich die Schwarzen Strohhüte aus der Sache heraushalten wollen, beschließt Johanna alleine zu Mauler zu gehen und mit ihm über die Situation der Arbeiter zu sprechen, der sich allerdings uneinsichtig zeigt. Johanna geht zurück zu den Arbeitern und erkrankt im Laufe des Winters.
Brecht setzt in der Johanna konsequent seine Trennung der Elemente durch:
Das Stück reiht Handungs-Episoden aneinander, vollzieht einen raschen Wechsel der Schauplätze, bedient sich sehr verschiedener Porsa- und Versformen und verweist zudem noch auf das Geschehen hinter den Kulissen, das sich in vertraulichen Briefen an Mauler abspielt Die Handlungsstränge sind also keineswegs synthetisch verknüpft, sondern eher bruchstückhaft ineinander montiert. (Lindner 2001:269)
Während Johanna davon überzeugt ist, dass sich Menschen verändern können und das eine Veränderung zum Guten für die Arbeiten möglich ist, versucht Mauler und sein Makler Slift sie zu überzeugen, dass die Arbeiter selbst Schuld an ihrem Elend haben. Im Laufe der Handlung muss Johanna zu mehreren Einsichten gelangen. Zunächst erkennt sie, dass die Schlechtigkeit der Arbeiter in ihrer Armut begründet liegt und beschließt also diese zu bekämpfen. Also geht sie wieder zu Mauler und tritt in einer zweiten Stufe als Handelnde auf. Ihre Enttäuschung über Mauler führt sie zur dritten Stufe, auf der sie wieder zu den Arbeitern zurückkehrt (Stufen nach Linder 2001:269f.). Allerdings vertraut sie den Arbeitern nicht voll und wartet bei ihnen nur auf Mauler, der nach ihr schickt. Als sie einen Brief weiterreichen soll, führt sie ihren Auftrag nicht aus und verzweifelt schließlich an diesem Versagen. Am Ende kommt sie zu dem Schluss, dass nur Gewalt hilf, wo Gewalt herrscht. Mauler wird zum Fleischerkönig erhoben und Johanna heilig gesprochen aber völlig defunktionalisiert: sie bekommt ihre Suppe, die sie ausschütten muss und fordert sie auf zu sprechen um übertönt zu werden.
Zwar spielen die Arbeiter eigentlich eine wichtige Rolle für den Fortgang der Handlung, im Drama selbst kommt ihnen aber nur eine marginale Rolle zu:
Die Arbeiter (Gloomb, Luckerniddle) werden zunächst als wehrlose und entmenschte Opfer gezeigt; aus Not ist jeder einzelne korrumpierbar und unfähig zu gemeinsamer Solidarität. Der geplante Generalstreik [...] bleibt schemenhaft; die gewaltsame Niederschlagung des Streiks findet nur am Rande oder hinter den Kulissen statt. (Linder 2001:271)
Die Welt der Arbeiter und die Chefetage sind einmal tatsächlich brutal, einmal nur metaphorisch und strikt voneinander getrennt. Zwischen den Lagern hin- und herbewegen kann sich nur Johanna.
Brecht Ökonomiekritik tritt im Stück offen zu Tage. Die Fleischindustrie wird als entseelte Maschinerie dargestellt, samt einer Vorrichtung, bei der die Schweine sich mittels ihres eigenen Gewichtes selbst töten und anschließend verarbeiten.
Das „Modellstück des epischen Theaters“ (Knopf 2001a:4) beginnt mit einem Vorspiel in welchem drei Götter erklären, dass die Welt in ihrer bisherigen Form weiterexistieren könne, wenn ausreichend gute Menschen gefunden werden würden (ein Spiel im Spiel). Die Götter kommen nach einigen Schwierigkeiten bei der Prostituierten Shen Te unter, von der sich herausstellt, dass sie nicht immer ein guter Mensch sein kann, da sie sonst nicht überleben würde und sie an schließlich irgendwie an Geld und Nahrung kommen muss. Daraufhin geben die Götter ihr Geld (was sie laut Selbstaussage urspünglich nicht vorhatten), von dem sich Shen Te einen Tabakladen kauft, was für sie einen sozialen Aufstieg bedeutet. Zwar kommen zunächst keine Kunden, sondern nur Menschen, die wie die achtköpfige Familie alle etwas ohne Gegenleistung wollen, aber Shen Te ist bereit allen zu helfen. Sie merkt jedoch schnell, dass sie dieses Verhalten alsbald in den Ruin treiben würde und so hört sie mit einigem Widerwillen auf ein Mitglied der achtköpfigen Familie und erfindet den hartherzigen Vetter Shui Ta, dem der Laden eigentlich gehört und verwandelt sich in ihn (sprich sie verkleidet sich). Dieser betrügt und ruiniert den Schreiner, ruft die Polizei, die die achtköpfige Familie abführt und beschließt, dass Shen Te einen reichen Mann heiraten muss, woraufhin sofort eine Annonce geschaltet wird. Auf diese meldet sich der Reiche Barbier Shu Fu mit dem sich Shen Te treffen soll. Auf dem Weg zu diesem Treffen trifft Shen Te allerdings auf den suizidgefährdeten Flieger Sun, der keine Anstellung bekommt, weil es ihm an Geld mangelt. Sie verliebt sich in ihn und verbringt die Nacht mit ihm.
Shu Fu schlägt am nächsten Tag einem Hausierer so stark auf die Hand, dass diese großen Schaden nimmt. Wegen der Liebesnacht und der Tatsache, dass sie Geld für die Miete geliehen bekommt, bemerkt Shen Te die lädierte Hand nicht, wofür sie sich später sehr schämt. Da die anwesenden Zeugen nicht vor den Richter treten wollen, beschließt Shen Te für den Hausierer Wang richterlich auszusagen. Suns Mutter, Frau Yang tritt auf und vermeldet, dass ihr Sohn eine Stelle in Aussicht habe, ihm nur das nötige Geld fehle. Shen Te überreicht ihr das eben für die Miete geliehene Geld. Da dies nicht ausreicht muss sich Shen Te wieder in Shui Ta verwandeln. Dieser hat allerdings eine ganz andere Meinung von dem Flieger Sun und beschließt, dass Shen Te den Barbier Shu Fu heiraten muss. Mittlerweile trifft allerdings der Richter ein, der die Aussage bestätigt wissen will. Shui Ta verleugnet jedoch Shen Te und sagt, dass sie gar nicht Zeugen des Vorfalls gewesen sei. Als sich Shui Ta wieder in Shen Te verwandelt, lässt sie den Barbier stehen und verschwindet mit Sun, um ihn zu heiraten. Bei der Hochzeit beharrt Sun jedoch darauf, dass Shui Ta ihm den Rest des Geldes gibt, was allerdings nicht möglich ist, da Shen Te ja anwesend ist, so platzt die Hochzeit und Shen Te bekommt ihr Geld von Sun nicht zurück.
Der Barbier zeigt abermals sein Interesse an Shen Te und überreicht ihr einen Blankoscheck, den sie mit 10000 Silberdollar ausstellt und einlöst. Da sie von Sun schwanger ist, will sie sich nun um ihr Kind kümmern. Als Shui Ta nimmt sie den Tabak den die achtköpfige Familie bei ihr untergestellt hat (es handelt sich um Diebesgut) und eröffnet eine Tabakfabrik, in dem die Menschen arbeiten müssen, die zu Anfang in ihrem Laden um Hilfe suchten (u.a. der Schreiner). Shui Ta steigt dadurch gesellschaftlich weiter auf und wird zum „Tabakkönig“. Auch Sun muss in der Fabrik arbeiten, Shui Ta droht ihm sonst mit einer Anzeige wegen falschen Eheversprechen und des fehlenden Geldes, das ihm kurzerhand vom Lohn abgezogen wird. Sun geht allerdings in der Fabrik keinesweg unter, er steigt dort zum Antreiber auf.
Die Polizei stellt fest, dass die Fabrik zu klein für die vielen Arbeiter ist. Daraufhin will Shui Ta mehr Räumlichkeiten von der Hausbesitzerin Mi Tzü, die neben Geld auch Sun haben möchte. Das nötige Geld soll wiederum der Barbier Shu Fu entrichten mit der Aussicht auf Shen Te.
Wiederum trifft allerdings die Polizei ein. Shui Ta wird festgenommen, da Sun jemanden schluchzen gehört hat und nur Shen Tes Kleider gefunden werden. Die Anklage lautet Mord. Bei der Gerichtsverhandlung haben sich die Götter in den Vorsitz gekauft und Shui Ta gibt sich als Shen Te zu erkennen. Die Götter beschließen in Shen Te den guten Menschen gefunden zu haben (ein guter Mensch reicht nun aus), auch erlauben sie ihr sich ab und zu in Shui Ta verwandeln zu dürfen und verschwinden. Am Ende des Stücks folgt ein Epilog an dem ein Schauspieler zu geben muss, dass alle Fragen offen bleiben.
Wie im ersten Buch Mose, in dem Abraham versucht Sodom und Gomorra zu retten, indem er dort 50 (bzw. später nur noch 10) gute Menschen finden soll, daran jedoch scheitert. Bei Brecht sind es jedoch die drei Götter, die zunächst genügend gute Menschen suchen und deren Anzahl von sich aus am Ende auf einen reduzieren. Das zweite Grundmuster sieht Knopf (2001d:425) im Welttheater-Topos, angelehnt an Calderón de la Barcas El gran theatro del mundo aus dem 17. Jahrhundert. Darin ruft Gott (genannt der Meister) die Welt auf und verteilt die Rollen der Menschen, die er auf die Probe stellt und beurteilt. „Parallelen ergeben sich zu B[rechts] Vorspiel insofern, als auch hier die Götter das Spiel eröffnen und Shen Te durch ihr Geschenk, eine neue, freilich sozial definierte Rolle erhält“ (ebenda).
Um das Stück als Theater zu entlarven bedient sich Brecht eines interessanten Mittels. Der Souffleur, eigentlich Teil des Theaterbetriebs stützt die Erfindung von Shui Ta (bei Chalderon ist der Souffleur das Gesetz der Gnade, das sich immer wieder einmischt) (Knopf 2001d:426):
In B[rechts] Text ist gegen die alte Theaterregel das Soufflieren Bestandteil des Spiels selbst; es wird regelrecht vorgeführt. Es muss von den Zuschauern (und auch den Lesern) bemerkt und als künstliches Mittel des Theaters erkannt werden: Was sonst unter oder neben der Bühne stattfindet, ist auf die Bühne, in ihre Handlung, verlegt. (Knopf 2001d:430)
Zwar finden die Götter ihren guten Menschen, wie sie sagen und entschwinden auf einer rosa Wolke, dennoch bleiben alle Fragen offen, denn die Welt hat sich keineswegs verändert, sie ist geblieben, wie sie war. Knopf (2001d:428) legt den Schluss wie folgt aus:
[...] diese „Welt“, die das Stück vorgeführt hat [...] [ist] „unbewohnbar“ [...]. Daraus folgt die weitere Konsequenz: sie muss verändert werden. Die möglichen Veränderungen aber finden nicht mehr – das wäre reines Wunschdenken und seinerseits Ideologie – auf der Bühne statt, sie kann nur den Zuschauern welche die Konsequenz erkannt haben, übereignet werden, wie es der Epilog auch tut. Der ‚offene‘ Schluss verweist demnach darauf, dass die Kunst ihre Grenze an den real herrschenden Verhältnissen, die für die Zuschauer gelten, findet und sie sich weder mit Wirklichkeit noch mit gesellschaftlicher Praxis verwechselt. Was sie lediglich kann, ist, in einem Modell bzw, hier im Experiment, das der Offenlegung der Funktionsgesetze der Gesellschaft dient, die real gegebenen Widersprüche ästhetisch zur Anschauung zu bringen und damit zu helfen, sie für die Zuschauer erkennbar werden zu lassen.
Shui Ta, die sich in Shen Te verwandelt ensteht als „Fiktion zweiter Ordnung“ (Knopf 2001a:11), die im Spiel mittels Soufflieren eingeführt wird, als mittels einer Theatertechnik.
Im Laufe des Stücks wird Shui Ta immer dominanter und Shen Te immer mehr verdrängt. Erst am Ende darf sie wieder sprechen, was sie sagt, wird allerdings nicht zur Kenntnis genommen: „Was Shen Te als Shen Te sagt, hat auf dieser Bühne nichts (mehr) verloren; die Souffleure des Stücks haben sich durchgesetzt, bis die Konstruktion zusammenbricht und die ‚reale‘ Person erledigt ist“ (Knopf 2001d:430). Die Lehre, die Shen Te am Ende bleibt ist, dass nur wer zum Ausbeuter wird, kann der Ausbeutung entgehen (Knopf 2001d:418f.).
Brechts Leben des Galilei spielt gezielt mit Brechts kunsttheoretischen Überlegungen des Dramas als wissenschaftlichem Experiment und Modellausschnitt der Welt. Das Stück behandelt „zwei der großen aktuellen Fragen des 20. (und 21.) Jh.s [...], nämlich die Auseinandersetzung zwischen einer primär sich als wertfrei verstehenden Wissenschaft und einer auf deren Instrumentalisierung abzielenden Tagespolitik einerseits und den aufklärerischen Kampf um die Verbreitung der Wahrheit andererseits“ Zimmermann (2001:357). Galileo Galilei steht im Mittelpunkt des Stücks. Zu Beginn erklärt er dem Sohn seiner Haushälterin Andrea Sarti in Padua das kopernikanische Weltbild und kann ihm dafür mittels eines Fernrohres, das er als seine eigene Erfindung ausgibt, obwohl er diese nur weiterentwickelt hat, auch belegen. Im weiteren Verlauf zieht Galilei nach Florenz, da er dort eine bessere Bezahlung am Hof des Großherzogs Cosmo in Aussicht hat. Seine Überzeugungen hinsichtlich des kopernikanischen Weltbildes werden dort allerdings nicht gern gesehen, obwohl Clavius der Astronom seine Entdeckungen bestätigen muss. Schließlich verbiete die Kirche die weitere Verbreitung seiner Lehren und er erhält eine Verwarnung. Als Jahre später der ihm wohlgesonnene Kardinal Barberini Papst wird, nimmt Galilei seine Forschungen in diese Richtung jedoch wieder auf. Nach Publikation des Werkes Dialogo zitiert ihn dennoch die Inquisition nach Rom. Von dieser eingeschüchtert, widerruft Galilei seine Ansichten. Jahre später ist er fast erblindet und lebt unter der Aufsicht eines Mönchs und seiner streng gläubigen Tochter, wo in schließlich der von ihm enttäuschte Andrea aufsucht. Mit Begeisterung erfährt dieser, dass Galilei heimlich an seinem nächsten Werk, dem Discorsi weitergearbeitet hat und erhält eine Kopie, die Andrea offen lesend über die Grenze befördern kann.
Das Stück Der kaukasische Kreidekreis beruht auf dem sogenannten salomonischen Urteil. In einem Vorspiel wird die Geschichte um einen Streit zwischen zwei Kolchosen um ein Tals im Kaukasus und dessen Nutzung nach den Zweiten Weltkrieg erzählt. Ein Sänger erzählt die Geschichte, die Mitglieder der auf der Gewinnerseite stehenden Kolchose Rosa Luxemburg spielen Laiendarsteller einer Schauspieltruppe, die Mitglieder der nicht erfolgreichen Kolchose Galinsk treten als Zuschauer auf. Der Rest des Stückes handelt von zwei Geschichten, die zeitgleich ablaufen, jedoch nacheinander erzählt werden: Die Geschichte der Magd Grusche (russisch für Katja) und Michel, dem Kind eines Gouverneurs und die Geschichte der Richters. Der Sänger ist ein Zeichen dafür, dass Brecht im Kreidekreis sein episches Theater verwirklichte, der obendrein auch als Regisseur des Stücks auftaucht und das Bühnengeschehn kommentiert. Auch die Sprache des Stücks wirkt an manchen Stellen einer Einfühlung entgegen, so sprechen Grusche und Simon sich manchmal mit man und nicht mit du an. Siehe auch Mews (2001b).
Erstmals zusammengetragen hat Brecht seine Vorstellungen vom epischen Theater und von seiner Idee der Verfremdung in der Schrift Verfremdungseffkte in der chinesischen Schauspielkunst (Brecht 1993 [1936]). Unter Verfremdung bzw. deren Wirkung, die er als Verfremdungseffekt oder kurz V-Effekt nannte, verstand er das, was den Menschen vertraut und bekannt war so zu verfremden, dass es im Betrachter ein Erstaunen und Neugierde hervorrufen sollte. Der Sinn dahinter war, dass Funktionsmechanismen der Gesellschaft aufgedeckt werden können, die sonst unserer Erkenntnis verborgen sind (da sie uns seit unserer Geburt umgeben). Entgegen der damaligen Strömungen wollte Brecht damit nicht psychologisch, sondern soziologisch Arbeiten und nicht seine persönlichen Probleme in seinen Werken thematisieren, sondern die der Gesellschaft. Da sich die Gesellschaft nicht ganz abbilden lässt, kann man nur einen beispielhaften Ausschnitt wählen. Analog zum wissenschaftlichen Experiment arbeitete Brecht daher mit Modellen, also mit der Realität nachgebildeten nachgebauten Teilausschnitten. Knopf (2001a:6) schreibt über Brechts Ansatz:
Da es sich bei der Kunst um gesellschaftliche, sich also stets verändernde und von Menschen veränderte, geschichtliche prozessuale Realitäts-Nachbildungen handelt, sind die Modelle einerseits Prinzipiell gesellschaftskritisch, insofern sie die Verdinglichung und die Entfremdung menschlichen Beziehungen in der modernen Gesellschaft offen legen, und andererseits in der zweiten Bedeutung von „Versuch“ zugleich ‚Proben‘, vorläufige Angebote, die wie die realen Prozesse ständiger Veränderung unterliegen. [...] Ziel ist es, die dargestellte ‚Kunstwelt‘ als veränderlich und vor allem durch die Menschen veränderbar zu zeigen.
Um die Rezipienten dazu zu zwingen das Bühnengeschehen als solches wahrzunehmen, kamen für Brecht verschiedene Werkzeuge in Frage. U. a. wurden Figuren eingesetzt, die das Bühnengeschehen kommentieren, wie Wang in Der gute Mensch von Sezuan, der zu Beginn des Stücks die Vorübergehenden kommentiert. Hier wird deutlich, dass Brecht seine Stücke nicht als reine Lesestücke entwickelte, sondern für die Bühne und für den Zuschauer schrieb. Brecht „zerstört die Fiktion, dass das Theaterstück Wirklichkeit abbilde, indem er die Kunst als solche bewusst macht und thematisiert“ (Hillesheim 2001:82).
Erklärtes Ziel seines Theaters war den Zuschauer aus seiner passiven Rezipientenrolle herauszuholen und sich bewusstmachen, dass sie als Teil der Gesellschaft zu deren Veränderung beitragen können. Teil dieses Programms war es auch die einzelnen Elemente des Stücks zu trennen (z.B. Musik, Wort, Darstellung, usw.). Dies war als Gegenprogramm zum Wagner’schen Gesamtkunstwerk gedacht und sollte eine ‚Einschmelzung‘ des Publikums verhindern, die nicht Teil des Kunstwerks werden sollten. Damit wendet er sich auch gegen die Einheit von Ort, Handlung und Zeit und Gustav Freytags Technik des Dramas:
Es handelt sich vielmehr um ein loses Miteinander einzelner Szenen und Episoden, von denen manche in ihrer Reihenfolge durchaus austauschbar wären. Bewusst vermeidet B[recht] den Eindruck, dass das Stück ein organisches Ganzes sei. Er deutet in seinem Aufbau auf das Artifizielle, künstlich gemachte, nicht Gewachsene hin und macht somit seine Ästhetik transparent. (Hillesheit 2001:82)
Lindner (2001:271) führt aus:
B[recht] zufolge sollten die Stücke des epischen Theaters eine Reihe von Versuchen bilden, die niemals die gesellschaftliche Realität als Ganzes abbilden oder symbolisieren wollen, sondern Realitätsausschnitte verfremdend modellieren, um das Selbstverständliche, die ‚Natur‘ des Bestehenden als Veränderbares aufzuzeigen.
Brechts episches Theater stellt eine Verbindung zwischen Dramatik und Epik, bedeutet also eine Verquickung von dialoghafter Handlung und Erzählung. Literarisch und damit Erzählend sind in Brechts Dramen besonders „die Titel, die, wie im Stummfilm, den Inhalt der Szenen vorwegnehmen und damit das Interesse des Publikums von ‚Was‘ des Dargestellten aufs ‚Wie‘ der Darstellung lenken“ (Knopf 2001c:41). Den Grund, warum Brecht die Verfremdung einsetzt ist darin zu suche, dass er die Menschen dazu bewegen will, die Welt zu verändern. Da das Theater vor Brecht aber den Einfluss der Menschen seiner Ansicht nach nicht genügend hervorhob, brauchte er ein neues, probates Mittel: „Die Einfühlung ist das große Kunstmittel einer Epoche, in der der Mensch die Variable, seine Umwelt die Konstante ist“ (Brecht 1936 [1981:996]).
Brecht geht es um die Darstellung gesellschaftlicher Defekte, die „die Beziehung der Menschen untereinander, aber auch des Menschen zu sich selbst entschieden bestimmte[n].“ Zentral für die erste Phase war „die sich in den Großstädten ausbreitende Kälte bzw. Entfremdung unter den Menschen und die damit verbundene Auslöschung von Individualität“ (Knopf 2001a:2).
Brecht, B. (1956): Stücke. Band 1: Baal. Trommeln in der Nacht. Im Dickicht der Städte. Berlin: Aufbau-Verlag.
Brecht, B. (1936 [1981]): Das epische Theater. In: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 983-998.
Brecht, B. (1993 [1936]): Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst. In: Müller, K.-D., Hecht, W., Knopf, J. und Mittenzwei, W. (Hrsg.): Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 22: Schriften 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 200-210.
Freytag, G. (1863): Die Technik des Dramas. Leipzig: Verlag von S. Hirzel.
Hillesheim, J. (2001): Baal. In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 69-86.
Knopf, J. (2001a): Die Stücke. Einführung. In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 1-12.
Knopf, J. (2001b): Vorwort. In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. VII-XII.
Knopf, J. (2001c): Praktische Theaterarbeit. In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 39-52.
Knopf, J. (2001d): Der gute Mensch von Sezuan. In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 418-440.
Lindner, B. (2001): Die heilige Johanna der Schlachthöfe. In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 266-288.
Mews, S. (2001a): Trommeln in der Nacht In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 86-99.
Mews, S. (2001b) Der kaukasische Kreidekreis. :In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 512-531.
Zimmermann, R. E. (2001): Leben des Galilei. In: Knopf, J. (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Band 1: Stücke. Stuttgart & Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 357-379.